Architektur Frankfurts
Veröffentlicht am März 11, 2024

Die wahre Eleganz des Frankfurter Westends offenbart sich nicht allein im Anblick prachtvoller Villen, sondern im Verständnis ihrer Fassaden als steinerne Chronik. Dieser architektonische Spaziergang entschlüsselt die Codes der Gründerzeit – von opulentem Stuck bis zu subtilen Stilmerkmalen – und enthüllt, wie gesellschaftlicher Ehrgeiz, wirtschaftliche Macht und bürgerschaftliches Engagement das nobelste Viertel Frankfurts bis heute prägen.

Ein Spaziergang durch das Frankfurter Westend ist mehr als nur eine Flanerie entlang baumgesäumter Boulevards. Es ist eine Zeitreise in eine Ära, in der Architektur zur Visitenkarte des Erfolgs wurde. Während die nahe Skyline mit ihren gläsernen Giganten die globale Finanzmacht Frankfurts verkörpert, erzählen die Sandsteinfassaden der Gründerzeitvillen eine leisere, aber nicht minder eindrucksvolle Geschichte von bürgerlichem Stolz, jüdischer Kultur und dem Aufstieg einer neuen Elite im späten 19. Jahrhundert. Viele Besucher bewundern die Ästhetik, die Erker, die Balkone und die kunstvollen Verzierungen, doch sie sehen oft nur die Oberfläche.

Die gängige Annahme ist, dass es genügt, die Namen der prächtigsten Straßen zu kennen. Doch die wahre Faszination liegt im Detail, in der Fähigkeit, die „Sprache“ der Fassaden zu lesen. Was verrät die Wahl eines korinthischen Kapitells über den Bauherrn? Warum ballt sich dieser Reichtum gerade hier und nicht in einem anderen Viertel? Und wie konnte dieses Ensemble den Abrisswellen des 20. Jahrhunderts trotzen? Die Antwort liegt nicht nur in der Kunstgeschichte, sondern auch in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Stadt. Es geht um das bewusste Zeigen von Status, die sogenannte Repräsentationsarchitektur.

Dieser Artikel verfolgt daher einen anderen Ansatz. Statt nur eine Route abzulaufen, statten wir Sie mit dem Wissen eines Architekturhistorikers aus. Wir werden die stilistischen Codes der Wilhelminischen Ära entschlüsseln, die sozialen Triebkräfte hinter der Entstehung des Viertels aufdecken und die dramatischen Kämpfe beleuchten, die sein heutiges Erscheinungsbild sicherten. Am Ende werden Sie durch die Straßen des Westends gehen und nicht mehr nur schöne Häuser sehen, sondern eine fesselnde Geschichte lesen, die in Stein gemeißelt ist.

Dieser Leitfaden ist so strukturiert, dass er Sie vom historischen Kontext über die Erkennungsmerkmale der Architektur bis hin zu ganz praktischen Tipps für Ihre eigene Entdeckungstour führt. So wird Ihr nächster Spaziergang durch das Westend zu einer echten architektonischen Expedition.

Welche Route führt in 90 Minuten zu den 12 prächtigsten Gründerzeitvillen im Westend?

Eine kuratierte Route enthüllt die Quintessenz des Westends in einem kompakten Spaziergang. Statt ziellos umherzuirren, konzentriert sich dieser 90-minütige Rundgang auf die architektonischen Juwelen und historischen Brennpunkte. Der ideale Startpunkt ist die Alte Oper, selbst ein prächtiges Beispiel der Hochgründerzeit. Von hier aus tauchen Sie direkt in die Bockenheimer Anlage ein, wo die ersten Villen den Übergang vom städtischen Trubel zur vornehmen Ruhe markieren.

Die Route führt Sie anschließend gezielt in die Feuerbachstraße und die Liebigstraße. Diese beiden Straßen bilden das Herzstück des wilhelminischen Westends. Halten Sie hier die Augen offen für die opulentesten Fassaden, die oft von Bankiers und Industriellen erbaut wurden. Ein Abstecher in die ruhigere Mendelssohnstraße offenbart dann Villen, die eine subtilere, oft vom Jugendstil beeinflusste Eleganz ausstrahlen. Achten Sie auf die Details: die kunstvoll geschmiedeten Zäune, die originalen Türgriffe und die repräsentativen Eingangshallen, die man manchmal erhaschen kann.

Wichtig zu verstehen ist, dass viele dieser Villen eine komplexe Geschichte haben. Das Westend war ein Zentrum des jüdischen Bürgertums. Familien wie die Franks oder Goldschmidt-Rothschilds prägten das Viertel. Viele Gebäude waren Schauplatz der „Arisierung“ während der NS-Zeit. Der Spaziergang ist also auch eine stille Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte. Denken Sie daran, dass die meisten Gebäude heute Privatresidenzen, Konsulate oder Kanzleien sind und eine Besichtigung von innen in der Regel nicht möglich ist. Der wahre Schatz liegt ohnehin in der Lesbarkeit ihrer äußeren Hülle.

Die Tour schließt mit einem Gang durch die Staufenstraße, die für ihre gut erhaltenen Ensembles und das Zusammenspiel von Architektur und altem Baumbestand bekannt ist. Sie endet am Grüneburgpark, der eine grüne Oase und einen perfekten Ort bietet, um die gesammelten Eindrücke dieser architektonischen Zeitreise Revue passieren zu lassen.

Stuckrosetten, Erker und Säulen: Wie erkennt man die Merkmale wilhelminischer Pracht?

Um die Villen des Westends wirklich „lesen“ zu können, bedarf es eines geschulten Blicks für die stilistischen Feinheiten der Gründerzeit. Diese Epoche war kein monolithischer Block, sondern entwickelte sich in Phasen, die sich alle in den Fassaden des Viertels widerspiegeln. Als Architekturhistoriker lernt man, diese Unterschiede wie die Kapitel in einem Buch zu deuten. Die Pracht ist nicht willkürlich; sie folgt Codes, die den Status, den Geschmack und die Modernität des Bauherrn kommunizieren sollten.

Die Hochgründerzeit (ca. 1870–1890), befeuert durch die Reparationszahlungen nach dem Deutsch-Französischen Krieg, ist die opulenteste Phase. Hier finden Sie die prunkvollsten Beispiele, oft überladen mit historischen Zitaten. Achten Sie auf massive, symmetrische Baukörper, die mit einer Fülle von Ornamenten verziert sind. Typisch sind opulente Stuckrosetten über den Fenstern, wuchtige Erker, die die Fassade plastisch gliedern, und Säulen oder Pilaster mit antiken Kapitellen (dorisch, ionisch, korinthisch). Figurenschmuck, Wappen und Kartuschen sollten den Betrachter beeindrucken und den Reichtum des Besitzers zur Schau stellen.

Im Kontrast dazu steht die Spätgründerzeit (ca. 1890–1914), die fließend in den Jugendstil übergeht. Die Formen werden verspielter, leichter und oft asymmetrischer. Statt strenger historischer Zitate finden sich nun florale und organische Ornamente. Geschwungene Linien an Giebeln und Balkonen lösen die starre Symmetrie auf. Die Materialien werden oft kontrastreicher eingesetzt, etwa durch die Kombination von hellem Sandstein mit farbigem Klinker oder Fachwerk-Zitaten im Giebelbereich. Ein Spaziergang durch die Liebigstraße zeigt oft wunderschöne Beispiele dieses Übergangs.

Dieses Wissen verwandelt Ihren Blick. Sie werden nicht mehr nur „schönen Stuck“ sehen, sondern erkennen, ob eine Fassade den strengen, historisierenden Repräsentationswillen der frühen Kaiserzeit oder schon die aufkeimende, naturinspirierte Formensprache der beginnenden Moderne ausdrückt.

Die folgende Tabelle fasst die charakteristischen Merkmale der Epochen zusammen und hilft Ihnen, bei Ihrem Spaziergang die Fassaden präzise zuzuordnen, wie es eine vergleichende Analyse von Architekturexperten zeigt.

Stilmerkmale der Gründerzeit-Epochen im Westend
Epoche Zeitraum Charakteristische Merkmale Beispiele im Westend
Frühgründerzeit 1850-1870 Streng klassizistische Formen, symmetrische Fassaden, zurückhaltende Ornamentik Rothschildpalais, Villa Leonhardi
Hochgründerzeit 1870-1890 Opulente Stuckrosetten, prunkvolle Erker, Säulen mit antiken Kapitellen, Figurenschmuck Villen in der Feuerbachstraße
Spätgründerzeit/Jugendstil 1890-1914 Verspielte florale Ornamente, geschwungene Linien, asymmetrische Elemente Villen in der Liebigstraße
Makroaufnahme von Stuckrosetten und Säulenkapitellen an Gründerzeitvilla

Diese Detailaufnahme verdeutlicht die handwerkliche Meisterschaft und den Formenreichtum, der in den Stuckelementen und Kapitellen der Hochgründerzeit zum Ausdruck kommt. Jedes Detail war eine Botschaft.

Warum bauten Bankiers und Unternehmer ihre Villen im Westend und nicht in anderen Vierteln?

Die Entstehung des Westends als exklusives Wohnviertel war kein Zufall, sondern das Ergebnis einer präzisen städtebaulichen und sozialen Logik. Um 1850 war Frankfurt eine noch von mittelalterlichen Mauern eingeengte Stadt. Als die Wälle fielen, wurde das Areal westlich der alten Stadtgrenzen für eine großbürgerliche Bebauung freigegeben. Dies geschah zu einer Zeit, als Frankfurt sich von einer Handelsstadt zu einem führenden Finanzzentrum wandelte. Eine neue, selbstbewusste Schicht von Bankiers, Unternehmern und wohlhabenden Kaufleuten entstand, die einen angemessenen Ort für ihre Repräsentation suchte.

Das Westend bot dafür die idealen Voraussetzungen: Es lag nah am Stadtzentrum und dem aufstrebenden Bankenviertel, aber doch weit genug entfernt, um eine ruhige, grüne und exklusive Atmosphäre zu garantieren. Die großzügigen Parzellen erlaubten den Bau freistehender Villen, die im Gegensatz zu den engen Reihenhäusern der Innenstadt puren Luxus darstellten. Hier konnte man seinen Erfolg unübersehbar zur Schau stellen. Das Bauen im Westend wurde zu einem sozialen Statement, einem sichtbaren Beweis der Zugehörigkeit zur obersten Gesellschaftsschicht. Es war die Verkörperung der „guten Stube“ Frankfurts.

Diese Anziehungskraft hat bis heute Bestand. Das Viertel wurde zwar durch die Verfolgung und Vertreibung seiner jüdischen Bewohner in der NS-Zeit seiner kulturellen und sozialen Wurzeln teilweise beraubt, doch sein Ruf als erste Adresse blieb. Nach dem Krieg zog es erneut die wohlhabende Elite an. Heute gehört das Frankfurter Westend zu den teuersten Wohnquartieren Deutschlands, mit Preisen von bis zu 9000 Euro pro Quadratmeter. Die historische Exklusivität hat sich nahtlos in einen modernen Immobilienwert übersetzt.

Die Entscheidung für das Westend war also eine Mischung aus strategischer Lage, städteplanerischer Möglichkeit und vor allem dem tiefen Bedürfnis einer aufstrebenden Klasse nach sichtbarem gesellschaftlichem Status. Die Architektur war dabei das primäre Medium, um diesen Anspruch auszudrücken und zu zementieren. Die Villen waren nicht nur Wohnhäuser, sie waren steingewordener Ehrgeiz.

Morgen- oder Abendlicht: Wann leuchten die Westend-Villen am schönsten für Fotos?

Die architektonische Pracht des Westends fotografisch einzufangen, ist eine Kunst für sich. Die plastischen Fassaden mit ihren Erkern, Gesimsen und Stuckdetails leben vom Spiel aus Licht und Schatten. Die Wahl des richtigen Zeitpunkts ist daher entscheidend, um die Dreidimensionalität und die feinen Texturen des Sandsteins herauszuarbeiten. Als passionierter Beobachter der Architektur kann ich Ihnen versichern: Das Licht ist der Pinsel, der die steinernen Leinwände zum Leben erweckt.

Die „Goldene Stunde“, jene magische Zeit kurz nach Sonnenaufgang und vor Sonnenuntergang, ist zweifellos der beste Moment. Das Licht ist dann weich, warm und fällt seitlich ein, was die architektonischen Details wie mit einem feinen Meißel nachzeichnet. Lange Schatten verleihen den Straßenzügen eine dramatische Tiefe. Der Frankfurter Fotografie-Experte Florian Orth beschreibt einen solchen Moment treffend, als nach einem Wolkenbruch plötzlich die Sonne durchbrach und „die Hochhäuser für wenige Minuten in goldenes Licht“ tauchte – ein Effekt, der für die Sandsteinfassaden des Westends noch eindrucksvoller ist.

Doch nicht jede Straße profitiert zu jeder Zeit gleichermaßen. Die Ausrichtung der Straßenzüge ist der Schlüssel. In Ost-West ausgerichteten Straßen wie der Staufenstraße ist das Morgenlicht ideal. Es streift die nach Süden gerichteten Fassaden und lässt jedes Ornament plastisch hervortreten. Umgekehrt fängt man in Nord-Süd ausgerichteten Straßen, wie Teilen der Guiollettstraße, das weiche Abendlicht am besten ein, das die Fassaden gleichmäßig und warm ausleuchtet.

Villenstraße im warmen Abendlicht mit langen Schatten der Platanen

Besonders reizvoll sind auch die Jahreszeiten. Im Herbst bildet das goldene Laub der Platanen einen malerischen Kontrast zum hellen Sandstein der Villen. Im Winter wiederum gibt der kahle Zustand der Bäume den Blick frei auf die gesamte architektonische Komposition, die im Sommer oft vom Blattwerk verdeckt ist. Nutzen Sie diese Gelegenheiten für eine ungestörte Betrachtung der Baukunst.

Ihr Aktionsplan: Die Westend-Villen im besten Licht einfangen

  1. Straßenausrichtung prüfen: Ost-West ausgerichtete Straßen (z.B. Staufenstraße) sind ideal für Morgenlicht, das Streiflicht betont die Stuckdetails. Nord-Süd-Straßen (z.B. Teile der Guiollettstraße) sind perfekt für das weiche Abendlicht.
  2. Jahreszeit nutzen: Der Winter bietet durch kahle Bäume einen ungestörten Blick auf die Architektur, während der Herbst mit seiner goldenen Blätterfärbung einen malerischen Kontrast zum Sandstein schafft.
  3. Zeitfenster der Goldenen Stunde kennen: Die Goldene Stunde dauert in Frankfurt je nach Jahreszeit nur etwa 30 bis 60 Minuten. Planen Sie Ihren Besuch genau um Sonnenauf- oder -untergang.
  4. Brennweite wählen: Verwenden Sie eine längere Brennweite (z.B. 85mm oder 100mm), um Details zu komprimieren und die Perspektive der Villen zu verdichten, was ihnen eine majestätische Wirkung verleiht.
  5. Versteckte Perspektiven suchen: Erkunden Sie auch die Durchgänge zwischen den Straßen, um überraschende Blickwinkel und intime Einblicke in die prächtigen Innenhöfe zu entdecken.

Welche Straßenzüge im Westend haben ihre historische Substanz am besten bewahrt?

Dass wir heute noch so viele geschlossene Ensembles von Gründerzeitvillen im Westend bewundern können, ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Es ist vielmehr das Resultat eines der heftigsten stadtpolitischen Konflikte in der deutschen Nachkriegsgeschichte: des sogenannten „Frankfurter Häuserkampfs“. In den 1970er Jahren sollte das Westend nach dem Willen von Investoren und Teilen der Stadtpolitik einem neuen, „modernen“ Büroviertel weichen. Geplant war der großflächige Abriss der als unzeitgemäß geltenden Villen, um Platz für Hochhäuser zu schaffen.

Gegen diese Pläne formierte sich ein breiter Widerstand. Studenten, Bürgerinitiativen und linke Gruppen organisierten Proteste und Hausbesetzungen, um den Abriss zu verhindern. Dieser Kampf war zwar erbittert und nur teilweise erfolgreich, doch er hatte eine entscheidende Wirkung: Er schärfte das öffentliche Bewusstsein für den Wert der historischen Bausubstanz. Viele der prächtigsten Villen, die heute das Bild des Westends prägen, wurden buchstäblich in letzter Minute gerettet. Ohne diesen bürgerschaftlichen Einsatz wäre das Viertel heute eine monotone Bürostadt.

Als Ergebnis dieses Kampfes gelten heute insbesondere die Liebigstraße, die Feuerbachstraße und die Mendelssohnstraße als die am besten erhaltenen Straßenzüge. Hier findet man noch lange, ununterbrochene Reihen von Villen, die ein authentisches Gefühl für die Atmosphäre des späten 19. Jahrhunderts vermitteln. Diese Straßen wurden zu Kernzonen des Denkmalschutzes. Eine Studie über diese Zeit belegt, dass dank der Proteste viele vom Abriss bedrohte Gründerzeitvillen gerettet werden konnten, was die Grundlage für die Erhaltung des historischen Charakters legte.

Ein Spaziergang durch diese Straßen ist also mehr als nur ein architektonischer Genuss. Es ist auch eine Hommage an jene Bürger, die erkannten, dass die historische Substanz die Seele eines Viertels ist. Sie haben dafür gekämpft, dass die steinerne Chronik des Westends nicht für kurzfristige Profitinteressen ausgelöscht wurde. Die beeindruckende Dichte an erhaltener Originalarchitektur ist ihr bleibendes Vermächtnis.

Warum entstanden in Frankfurt mehr architektonische Hochhaus-Experimente als in anderen deutschen Städten?

Die Koexistenz von opulenten Gründerzeitvillen und kühnen Hochhaus-Experimenten ist das, was die Silhouette Frankfurts so einzigartig macht. Während das Westend die bürgerliche Repräsentationsarchitektur des 19. Jahrhunderts verkörpert, spiegelt das benachbarte Bankenviertel den Aufstieg zur globalen Finanzmetropole im 20. Jahrhundert wider. Der Grund für diese außergewöhnliche Dichte an Wolkenkratzern liegt in einer Kombination aus historischer Zerstörung, politischem Willen und wirtschaftlicher Notwendigkeit.

Nach den verheerenden Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs fehlte Frankfurt, anders als etwa München oder Hamburg, ein weitgehend intaktes historisches Stadtzentrum, das unter strengen Denkmalschutz gestellt worden wäre. Diese „tabula rasa“ bot eine einzigartige Chance für radikal moderne städtebauliche Visionen. Gleichzeitig etablierte sich die Stadt als Sitz der amerikanischen Militärregierung und später als zentraler Finanzplatz der jungen Bundesrepublik. Der Bedarf an riesigen Büroflächen für Banken und internationale Unternehmen explodierte.

Die Frankfurter Stadtpolitik entschied sich bewusst dafür, diesen Bedarf nicht in die Fläche, sondern in die Höhe zu bauen. Man wollte eine „amerikanische“ Skyline als Symbol für Wirtschaftswunder und internationale Offenheit schaffen. Während andere deutsche Städte Hochhäuser eher skeptisch sahen und dezentralisierten, förderte Frankfurt ihre Konzentration im Bankenviertel. Dies führte zu einer Welle architektonischer Experimente, bei der renommierte Architekten immer neue Höhen und Formen ausloteten. Ein ikonisches Beispiel ist der 257 Meter hohe Messeturm, der bei seiner Fertigstellung 1990 das höchste Gebäude Europas war und die Ambitionen der Stadt eindrucksvoll manifestierte.

Die folgende Gegenüberstellung verdeutlicht die fundamentalen Unterschiede in der architektonischen Sprache, die doch beide einem ähnlichen Zweck dienten: der Demonstration von Macht und Einfluss.

Westend-Villen vs. Bankenviertel-Hochhäuser
Aspekt Gründerzeitvillen Moderne Hochhäuser
Baujahr 1850-1914 Ab 1970er Jahre
Höhe 3-4 Stockwerke Bis 257 Meter
Material Sandstein, Stuck Glas, Stahl, Beton
Nutzung Wohnen, Konsulate Büros, Banken
Symbolik Bürgerlicher Wohlstand Wirtschaftsmacht

Somit sind die Hochhäuser nicht der Feind der Villen, sondern ihre logische Fortsetzung mit anderen Mitteln. Beide sind Ausdruck ihrer Zeit und des dominanten Repräsentationsanspruchs – erst der des Großbürgertums, dann der des globalen Kapitals.

Wie liest man die Geschichte Frankfurts an den Verzierungen der Fachwerkhäuser ab?

Um die architektonische Sonderstellung des Westends zu begreifen, ist ein Blick auf sein historisches Gegenstück, die Frankfurter Altstadt um den Römerberg, unerlässlich. Während das Westend authentische, über Jahrzehnte gewachsene Originalsubstanz aus dem 19. Jahrhundert präsentiert, ist die heutige Altstadt zu großen Teilen eine ideal-typische Rekonstruktion. Hier wird eine Vorstellung des Mittelalters und der frühen Neuzeit inszeniert, die nach den Zerstörungen des Krieges so nicht mehr existierte.

Die Verzierungen der Fachwerkhäuser am Römerberg erzählen daher eine doppelte Geschichte. Einerseits zitieren sie historische Formen – Andreaskreuze, Rauten und geschnitzte Figuren, die einst Wohlstand und Zunftzugehörigkeit signalisierten. Andererseits erzählen sie die Geschichte einer modernen Entscheidung: die Entscheidung, die Vergangenheit nicht nur zu bewahren, sondern sie aktiv wiederzuerwecken. Wie eine Analyse des umstrittenen Dom-Römer-Projekts aufzeigt, wurden hier 15 der 35 Häuser eng an historische Vorbilder angelehnt, teilweise unter Verwendung geborgener Originalfragmente. Es ist ein faszinierender, aber auch debattierter Versuch, eine verlorene Identität wiederzugewinnen.

Der entscheidende Kontrast zum Westend liegt in der Materialität und Authentizität. Ein Architekturhistoriker fasst diesen Unterschied prägnant zusammen, wenn er auf die Symbolik der Baumaterialien verweist:

Das lokale Eichenholz und der Lehm der Altstadt gegenüber dem teuren Sandstein, Marmor und den importierten Hölzern des Westends spiegeln Frankfurts Aufstieg von einer regionalen Handelsstadt zu einem globalen Finanzzentrum wider.

– Architekturhistoriker, Frankfurt Architektur im Wandel

Diese Aussage bringt es auf den Punkt: Die Fachwerkhäuser des Römerbergs stehen für das bodenständige, handwerklich geprägte Bürgertum der alten Reichsstadt. Die Sandsteinpaläste des Westends hingegen sind der architektonische Ausdruck des neuen, international agierenden Finanzadels. Das eine ist eine liebevolle Rekonstruktion einer vergangenen Epoche, das andere das original erhaltene Zeugnis des Beginns einer neuen. Genau dieser Kontrast macht den architektonischen Reichtum Frankfurts aus.

Das Wichtigste in Kürze

  • Das Westend ist mehr als nur schön: Seine Villen sind eine steinerne Chronik des sozialen und wirtschaftlichen Aufstiegs Frankfurts im 19. Jahrhundert.
  • Die Architektur folgt klaren Codes: Die opulente Hochgründerzeit lässt sich deutlich von der verspielteren Spätgründerzeit und dem Jugendstil unterscheiden.
  • Die Erhaltung des Viertels ist kein Zufall, sondern das Ergebnis des „Frankfurter Häuserkampfs“ der 1970er Jahre, der den Abriss vieler Villen verhinderte.

Wie entdeckt man den echten Charme des Römerbergs abseits der Touristenmassen?

Der Römerberg ist das unbestrittene historische Herz Frankfurts, doch sein Charme wird oft von Touristenmassen überlagert. Um die wahre Atmosphäre dieses Ortes zu spüren, muss man ihn antizyklisch erleben: in den frühen Morgenstunden, wenn die Gassen noch leer sind und das erste Licht die Giebel der rekonstruierten Fachwerkhäuser sanft beleuchtet. In dieser Stille kann man sich die pulsierende Geschäftigkeit der alten Reichsstadt vorstellen, lange bevor sie zum Fotomotiv wurde.

Ein solcher früher Start am Römerberg bietet jedoch mehr als nur ein ruhiges Erlebnis der Altstadt. Er ist der ideale Ausgangspunkt für einen architektonischen Kontrast-Spaziergang, der die gesamte historische Spannweite Frankfurts erlebbar macht. Anstatt am Römer zu verweilen, nutzen Sie die morgendliche Ruhe als Auftakt für eine Wanderung durch die Zeitepochen. Der Weg führt Sie wie von selbst durch die Freßgass‘, eine moderne Einkaufsmeile, die schon den Übergang andeutet, bis hin zur Alten Oper, dem opulenten Portal zum Westend.

Wenn Sie von dort in die Bockenheimer Anlage und weiter in die Villenstraßen eintauchen, vollziehen Sie jenen historischen Schritt nach, den das Frankfurter Bürgertum vor über 150 Jahren ging: den Schritt aus der engen, mittelalterlich geprägten Altstadt hinaus in ein neues, großzügiges und repräsentatives Wohnideal. Der Kontrast könnte nicht größer sein: von der kleinteiligen, vertikalen Fachwerkbauweise zur horizontalen, flächengreifenden Pracht der Sandsteinvillen. Erst durch diesen direkten Vergleich wird die revolutionäre Aussage der Westend-Architektur wirklich fassbar.

Dieser alternative Stadtspaziergang verbindet die beiden ikonischen Gesichter Frankfurts. Er verwandelt eine touristische Pflichtübung am Römerberg in den Startpunkt einer tiefgründigen architektonischen Entdeckungsreise, die im authentischen, gewachsenen Ambiente des Westends ihren Höhepunkt findet. Es ist der Weg vom rekonstruierten Gestern zum erhaltenen Vorgestern.

Indem Sie lernen, die architektonischen Sprachen beider Welten – des Römerbergs und des Westends – zu lesen und zu vergleichen, erschließen Sie sich die ganze Komplexität und Faszination der Frankfurter Stadtgeschichte. Planen Sie Ihren nächsten Besuch daher nicht als zwei getrennte Ausflüge, sondern als eine zusammenhängende Erzählung, die in Stein, Holz und Stuck geschrieben steht.

Geschrieben von Petra Schneider, Dr. Petra Schneider ist promovierte Archäologin und Historikerin mit Spezialisierung auf römisches Grenzsystem und mittelalterliche Stadtgeschichte, seit 16 Jahren in der Denkmalpflege und musealen Vermittlung tätig. Sie ist zertifizierte Stadtführerin für Frankfurt und arbeitet derzeit als Leiterin der Abteilung Archäologie bei einer staatlichen Denkmalschutzbehörde in Hessen.